Der Wendepunkt von Chemnitz

Der 27. August 2018 in Chemnitz stellt einen Wendepunkt dar. Wenn wir jetzt nicht zusammenstehen und gemeinsam handeln, wird nichts mehr so sein, wie es war. Die Schuld daran trägt die AfD. Und wir, weil wir den Mut nicht finden konnten.

Was gestern in Chemnitz geschehen ist, hatte eine ganz neue Qualität. Es wurde eine neue Stufe erreicht, die schwer in Worte zu fassen ist. In den letzten Jahren war ich häufig Teil von Gegendemonstrationen. Gegen Rechts, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, gegen rechtsextreme Fackelträger zum 5. März in Chemnitz. Stets gab es dabei eine latente Gefahr der direkten Auseinandersetzung. Doch zu jederzeit fühlte ich mich halbwegs sicher im Kreis der Mitdemonstranten und im Schutz der Polizei. Am 27. August 2018 war das anders. Zu wenige Polizisten standen zu viel Aggression gegenüber. Immer wieder rannten Polizisten vom einen Konfliktherd zum nächsten, wodurch andere Bereiche wieder nahezu ungeschützt hinterlassen werden mussten. Der rennende Rückzug in den Stadthallenpark markierte den Höhepunkt meiner Emotionen, die sich nicht anders als mit Angst umschreiben lassen. Angst vor durchbrechenden Rechten. Angst vor dem Kontrollverlust der zum Schutz anwesenden Polizei. Und Angst mit Blick auf die Zukunft, dass Rechtsextreme plötzlich das Gefühl bekommen, dass wieder mehr möglich ist. Chemnitz am 27. August 2018 war anders als vorher.

Neonazis sahen in den 1990er Jahren überall gleich aus in Ostdeutschland. Bomberjacke, Glatze, Springerstiefel oder Sneaker von New Balance. Doch irgendwie waren sie um die Jahrtausendwende aus dem Stadtbild verschwunden. Nur am 5. März kamen sie regelmäßig aus der Versenkung und verschwanden danach wieder so schnell, wie sie gekommen waren. Seit gestern weiß ich: Sie sind wieder da. Die Marken haben sich geändert, das Auftreten, der hasserfüllte Blick — all das ist geblieben und hat sich gestern wieder offenbart.

Wurde zu Beginn der Demo noch “Merkel muss weg” und “Wir sind das Volk” gerufen, hörte man später nur noch Rufe, die vermeintlich der Vergangenheit angehört haben.

Deutschland den Deutschen. Ausländer raus.

Hier regiert der nationale Widerstand.

Frei, sozial und national.

Die Pegidaklassiker wie “Merkel muss weg” scheinen nur noch den Zweck zu erfüllen, die Masse der Nichtnazis nicht zu verstören und zur weiteren Teilnahme an der Demo zu überreden. Denn das auch Nichtnazis dabei waren, ist mir klar. Der Anteil offensichtlicher Nazis war bei dieser Demo jedoch höher als sonst. So wird “Nazi” immer weniger zur ungerechten Verallgemeinerung aller und immer mehr zur treffenden Beschreibung der Mehrzahl der Demonstranten.

Das, was gestern in Chemnitz geschehen ist, könnte später mal als Tipping Point beschrieben werden. Der Punkt, an dem sich eine Entwicklung stark beschleunigt hat. Ein Wendepunkt. Und wenn wir Pech haben, ein Point of no Return. Wir waren dabei, haben die Bilder gesehen. Im Netz, im mdr, sogar auf CNN.

Wenn der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer in seiner heutigen Pressekonferenz einen Ruck verlangt, ein Zusammenstehen aller gegen Rechts, dann erwarte ich das vor allem von ihm und der gesamten sächsischen Regierung. Der gesamten sächsischen Landschaft demokratischer Parteien. Er will diesen Kampf gewinnen. Das glaube ich ihm sogar.

Jetzt heißt es anpacken, persönliche Befindlichkeiten ganz hintenanstellen und zusammen arbeiten. Alle! Ohne wenn und aber! Denn wenn wir nicht alle gemeinsam handeln, verlieren wir. Wir verlieren diese Stadt, dieses Land, den Kampf gegen Rechts, Hass und Menschenverachtung. Wir bekommen ein Land, in dem nichts mehr ist, wie es vorher war. Ich erwarte eine Koalition über alle Parteigrenzen hinweg. In Sachsen und auch in Chemnitz. Runde Tische, gemeinsame Auftritte, Aktionspläne die mutig in die Tat umgesetzt werden und alles, was es braucht, um diesen Kampf zu gewinnen. Der Kampf gegen Rechts muss zur obersten Priorität erklärt werden. Für alle, ab sofort!