Foto: Jens Uhlig (http://www.freiepresse.de/LOKALES/CHEMNITZ/Sternmarsch-gegen-Asylpolitik-artikel9368664.php)

Stollberg, du machst mich traurig

Falk Sieghard Gruner

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In Stollberg gehen die Patrioten auf die Straße, reden darüber, dass die wahren Brandstifter nicht die sind, die Anschläge auf Flüchtlingsheime verüben, und mindestens 3000 hören zu — mit Begeisterung. Und ein Grußwort vom Bürgermeister gab es auch.

Ich bin in Stollberg geboren und habe hier einen Teil meiner Kindheit verbracht. In einem Nachbardorf aufgewachsen, bin ich hier zur Schule gegangen. Mittlerweile lebe ich in Chemnitz. Ein großer Teil meiner Verwandtschaft wohnt immer noch in Stollberg. Oft bin ich in der Stadt und daher macht es mich traurig, was am 27.11.2015 war. Ich habe Stollberg als Jugendlicher noch mit einer starken rechtsradikalen Szene erlebt. Um die Jahrtausendwende hatte sich dieses Thema scheinbar erledigt. Nach einem Jahr Pegida kommt der Schrecken nun zurück. Nur breiter. Nationalismus, Rassismus sind wieder groß. Zumindest in Sachsen. Mir fehlt ehrlich gesagt der Überblick zur Verteilung von pegidaähnlichen Demonstrationen in ganz Deutschland. Nur Pegida München, Köln und Berlin sind doch kein Thema mehr, oder? Dafür kommen in Dresden wieder mehr Menschen zusammen. Nun auch in Stollberg unter dem Titel “Die Stunde der Patrioten”.

…weil du zur Pegida-Hochburg im Erzgebirge werden könntest

In Chemnitz kommen montags kaum noch 500 Menschen bei Cegida zusammen. Dagegen 3500 in Stollberg! Offiziell waren es 3000. Schätzungen gehen von 3000–4000. Teilnehmer berichten von 7000. Über Teilnehmerzahlen zu diskutieren ist müßig. Es sind zu viele. Es könnten mehr werden. Es könnten noch mehr Menschen aus dem Umland kommen. Stollberg könnte Dauergast für Demos der Patrioten werden. Was in Chemnitz nicht mehr so richtig funktionieren will, kann in Stollberg aufgehen.

Ja, für mich gehören die Stollberger Patrioten zu Pegida. Das können sie selbst abstreiten. Wer “Antifa Hurensöhne” ruft, der muss das ertragen. Und wer Redner begrüßt, die bei Pegida rausgeflogen sind (siehe weiter unten), der muss das erst recht ertragen.

Es finden sich Videos der kompletten Veranstaltung. Ich werde sie hier nicht verlinken, aber ja, ich habe mir die gut 90 Minuten Stollberger Patriotismus angesehen. Man könnte so vieles aufzählen, was in Stollberg an diesem Abend beklatscht wurde. “Merkel muss weg”. “Widerstand”. Und durchgestrichene Refugees Welcome Plakate.

Zu Beginn erfolgte eine interessante Selbstdefinition der Veranstaltung: ”Dies hier ist keine Basis für Hass, hier wird kein Hass geschürt, hier wird Liebe gelebt”. Gelebte Liebe klingt gut. Das könnte in der aktuellen Situation nach Hilfsbereitschaft klingen. Kurz darauf folgte jedoch eine Einschränkung der gelebten Liebe. “Wir wollen helfen. Aber wir können nur so viel helfen, wie auch in unserer Macht steht, und wir sind leider mit unserer Hilfsbereitschaft am Ende.” Diese Aussage ist legitim, die Frage nach der bereits erfolgen Hilfe ebenso. Denn welche Hilfe bisher von den Stollberger Patrioten geleistet wurde, bleibt unklar.

Unter den Rednern des Abends war u.a. Stephane Simon, der nach eigener Aussage Redeverbot bei Pegida hat. “Sie kommen hier her, in das günstigste System, um Geld zu kassieren.” Applaus. Ein paar Sätze später schallt der ruf “Abschieben” über den Platz. Kurz darauf noch “Volksverräter” in Richtung der Politik.

“Für mich sind die wahren Brandstifter in Deutschland, nicht dumme (Schwer zu verstehen. Könnte auch “nur” oder “junge” heißen) Rassisten, die Asylgebäude anzünden”, führt Simon weiter aus, ”Nein, die wahren Brandstifter sind die Politiker in der EU…” Applaus unterbricht den Redner. Abgesehen davon, dass es dann noch um die geheime amerikanische Führung der Welt geht, heißt das, dass Angriffe auf Unterbringungen von Flüchtlingen legitim sind, weil die Politiker viel schlimmer sind? Heißt das, dass diese zündelnden Rassisten ein Ergebnis der Politik ist? Dass diese Rassisten gar nicht anders können?

Kurzer Einwurf. Sachsen ist mit Abstand die Hochburg brennender Flüchtlingsheime. Das ist zum kotzen!

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-11/rechtsextremismus-fluechtlingsunterkuenfte-gewalt-gegen-fluechtlinge-justiz-taeter-urteile?

Besonders patriotisch wurde es bei Sanny aus Meerane, die aufgrund ihrer vorher eingesandten Rede aufs Podium durfte: “Wir werden gewinnen, weil wir Deutsche sind.” Dies wurde mit “Wir sind das Volk”-Rufen quittiert. Da ist sie, die “arische Herrenrasse”! Der Deutsche, der dazu auserkoren ist, zu gewinnen? Weil er überlegen ist? Zum Sieg fehlt nur noch eins: “Wir brauchen Anführer, keine Politiker”, so Sanny. Applaus.

Curd Schumacher durfte auch sprechen: “Deswegen heißt es nicht Merkel weg, sondern das ganze System muss geändert werden.” Applaus. Eine Demokratie will man scheinbar dann doch noch. Nur das “amerikanisch-imperialistische System” muss weg. Das wurde mit “Ami go home” Rufen bestätigt. Anschließend wurde noch eine Verfassung gefordert und gegen die Besatzer gewettert. Wieder Applaus.

…weil dein Bürgermeister mitmacht

In vielen Städten reagieren öffentliche Einrichtungen mit einem klaren Zeichen gegen Demonstrationen von Pegida und ähnlichen Gruppen. Beleuchtungen werden abgestellt, Banner mit Botschaften der Weltoffenheit aufgehangen. Leider geht man von politischer Seite in Stollberg einen anderen Weg. Nicht nur, dass jede Beleuchtung an blieb oder dass die Redner die Bühne des Weihnachtsmarktes nutzen konnten. Viel mehr spricht der Bürgermeister von Stollberg auf dieser Veranstaltung (01.11.2015, Video ebenfalls im Netz zu finden) oder lässt, wie am 27.11.2015 geschehen, ein Grußwort verlesen, da er auf einer Dienstreise war.

“Und wenn heute in Stollberg in unseren Straßen zum Ausdruck kommt, dass viele Menschen eine Begrenzung der Flüchtlingszuwanderung fordern, dann möchte ich damit verbinden, das fordere ich auch.” Applaus. Den hat er sich auch verdient, stellt er sich doch auf die Seite der Stollberger Patrioten.

Man muss ihm eins zu Gute halten, dass er die weltpolitischen Probleme nicht außer Acht lässt und zumindest die Flüchtlinge in Schutz nimmt, die bereits da sind. Andererseits ist er stolz auf sich, das Schloss Hoheneck gekauft zu haben, “da kann niemand dort oben Unterkünfte daraus machen”, (01.11.2015). Noch schärfer geht es auch: “Für mich gibt es zur Zeit nur eine Lösung und diese Lösung heißt Festung Deutschland”, (01.11.2015). Festung Deutschland also. Eine Festung Europa genügt nicht. Deutschland muss zur Festung werden. Sagt nicht Pegida, sagt der Bürgermeister von Stollberg.

Er spricht weiter von Zäunen und gleichzeitig davon, dass er froh ist, dass die Mauer 1989 gefallen ist. Wie man den nächsten Satz dann wieder mit einem “Aber” beginnen kann, erschließt sich mir nicht. Neue Zäune in Europa und am besten um Deutschland herum — Stichwort Festung Europa. Doch hier kann es kein Aber geben. “Ich bin froh, dass die Mauer gefallen ist, aber…”? “Ich bin kein Rassist, aber…”, “Ich geh gern zum Chinesen, aber…”, “Wir sind hilfsbereit, aber…”. Auch bei solchen Fragen darf es kein “aber” geben:

(eigenes Foto von Cegida-Gegendemo: https://www.instagram.com/p/5XjQ4bkzR_/)

Neben Marcel Schmidt scheint auch sein Stellvertreter Dr. Günter Colditz hinter den Demos zu stehen. Seinen Äußerungen zufolge, würde er sie vielleicht sogar am liebsten anführen. Zwei Tage nach der “Stunde der Patrioten” (also am 29.11.2015) wurde das alljährliche Pyramidenanschieben begangen. Die Weihnachtsbeleuchtung der Stadt wird in Betrieb genommen, es gibt Glühwein und die Pyramide wird gestartet. Kinder lasen an diesem Abend Gedichte vor, die sie selbst geschrieben haben. Nach je 2 Gedichten folgten kurze Botschaften von Vertretern der Stadt und der Kirche. Anfang und Ende der kurzen Ansprache des besagten Stellvertreters, haben mich erschüttert:

“Weihnachten ist das Fest der Liebe und es strahlt bereits aus. Daher finde ich es toll, dass am Freitag die größte Demo seit ’89 hier in Stollberg stattgefunden hat und so friedlich geblieben ist.” und “Zum Glück haben wir “Ihr Kinderlein kommet” nicht gesungen. Denn letztes Jahr haben wir es gesungen und jetzt sind die Kinder da mit ihren Familien.” Beide Zitate sind aus meiner Erinnerung an Dr. Günter Colditz, den stellvertretenden Bürgermeister, am 30.11.2015 auf dem Marktplatz in Stollberg. Wer mitgeschrieben hat, kann mich gern korrigieren. Der Kern bleibt höchst wahrscheinlich. Die Demonstration der Stollberger Patrioten steht in Tradition mit den Montagsdemos 1989 und wir hätten niemals Flüchtlinge ins Land lassen dürfen. Tosenden Applaus gab es zum Glück nicht.

…weil Freunde sich gegenüberstehen

In Chemnitz ist mir eigentlich nur einer bekannt, der zu Cegida geht. Vielleicht sind es 3. In Stollberg sind es mehr, deutlich mehr und die genaue Zahl will ich ehrlich gesagt gar nicht wissen. So ging es eigentlich allen, mit denen ich mich auf der Gegendemonstration unterhalten konnte. Es sind mehr, die auf der Seite der Patrioten stehen, als auf der Seite der Flüchtlinge. Das ist erschütternd. Es führt dazu, dass sich auf der Straße Freunde gegenüber stehen. Freunde, die viel Zeit miteinander verbringen, im gleichen Verein sind und vielleicht sogar den gleichen Glauben haben.

…weil du immer mehr Nicht-Nazis anziehst

Auf diesen Demos sind nicht nur Nazis. Das glaube ich und ich hoffe es, sind doch Freunde und Bekannte darunter. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass der Großteil zu den Nicht-Nazis gehört. Und das macht es um so schlimmer. Denn sie werden zu Mitläufern, sie machen die geringe Zahl an Rassisten groß, sie machen sie stark. Sie rufen vielleicht heute noch nicht “Merkel muss weg” oder “Widerstand, Widerstand”. Aber vielleicht denken sie es oder rufen in Gedanken mit. Beim nächsten Mal dann leise, beim übernächsten Mal dann laut. Sie sehen sich das erstmal an, sie machen irgendwann mit, sie sind irgendwann mittendrin.

…weil du nicht weißt, worauf du dich einlässt

“Merkel muss weg”. Meinetwegen. Dass dann Gabriel nicht folgen soll, wurde bei den Patrioten klar. Die Grünen und Linken fallen wohl auch raus. Was ist mit der AfD? Redner der Partei sind gern gesehene Gäste. Kanzlerin Frauke Petry. Oder wie wäre es mit Kanzler Lutz Bachmann? Der Ruf nach Anführern wird immer wieder laut. Eine starke Hand, die Sicherheit und Geborgenheit spendet, einen klaren Weg vorgibt. Kann das funktionieren? Hat es das in der Geschichte je gegeben? Wünschen wir uns in einem politischen System zu leben, das denen Russlands, Ungarns und der Türkei ähnelt? Ein starker Führer, der irgendwann nicht umhin kommt, gewisse Freiheiten einzuschränken. Freiheiten von Minderheiten — weil sie seinen Weg nicht erkennen. Freiheiten von Journalisten — weil sie Lügen verbreiten. Freiheit von Andersdenkenden, von Andersartigen — weil sie nicht ins System passen. Dass der ihr berühmter Satz “ Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden” mal von Pegida und Patrioten benutzt wird, hätte sich Rosa Luxemburg wohl auch nicht denken können.

Stollberg, du gibst mir Hoffnung, weil du noch nicht aufgibst

Aber auch das war Stollberg am 27.11.2015. Rund 300 Gegendemonstraten am Bahnhof, organisiert von der Gruppe “Menschlichkeit als Tradition”. Gut 400 Menschen zum Friedensgebet, organisiert von den Kirchen Stollbergs.

Banner an der Kirche in Stollberg

Beide Veranstaltungen waren deutlich kleiner, keine Frage. Aber es gab sie. Sie wurde von Motiven getragen, die sich komplett von denen der Patrioten unterscheiden. “Refugees Welcome”, “Kein Mensch ist illegal”, “Licht an für Menschlichkeit” und vieles mehr. Auch die Redebeiträge machen Hoffnung:

Besonders, dass Vertreter der Kirchen anwesend waren und gesprochen haben, macht mir Hoffnung. Schließlich geht es doch immer wieder um das christliche Abendland. Nur immer weniger um christliche Werte. Außer an diesem Abend in Stollberg. Erst wurde ein Friedensgebet veranstaltet, dann trafen viele Teilnehmer des Gebets am Bahnhof bei der Gegendemo ein:

Die Patrioten werden wieder auf die Straße gehen. Die Gegendemonstranten sicher auch. Wenn es geht, werde ich mich ihnen jederzeit anschließen. Ob das zu etwas führt, ist eine andere Frage. Denn zusehen will ich nicht, zusehen kann ich nicht. Deswegen:

Zwei Sachen noch. Auf der Seite Asylfakten.de sind viele wichtige Dinge zusammengetragen worden. Statistiken, Berichte, Lesehinweise und vieles mehr.

Und ein Zweites: Weil Pegida immer anprangert, dass sich keiner um unsere Kinder, unsere Obdachlosen, unsere Armen kümmert. Zum einen entspricht das nicht der Realität. Die Stadt Chemnitz (also “der Staat”) hat zum Beispiel eine eigene Beratungsstelle für Obdachlose. Heilsarmee und andere Organisationen kommen hinzu. Zum anderen bezweifle ich — und das ist zunächst ein Bauchgefühl und über gegenteilige Berichte würde ich mich sehr freuen — das die Teilnehmer von Pegida sich um Obdachlose kümmern. Und es kommt noch “schlimmer”. Denn in Berlin kümmert sich jetzt ein syrischer Flüchtling um unsere Obdachlosen:

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Falk Sieghard Gruner

Influencer in ganz Chemnitz Nord 💥 ||| Ausgewachsener Teenager 🤷‍♂️ ||| Social Media und Content Marketing Consultant 💡